Vita
Als Andreas Renoldner am Freitag, den 13. August 1999 den Computer einschaltete, um seine Biographie auszudrucken, erschien ein buchstabenfressendes Männchen auf dem Bildschirm. Wenig später war sein Lebenslauf vernichtet, den er seither vergebens zu rekonstruieren versucht.
Jahrelang hatte er einfach die Datei Lebenslauf mit den aktuellsten Entwicklungen ergänzt, abgespeichert, ausgedruckt und nicht mehr daran gedacht. Jetzt will er seinen Lebenslauf in dieses Formular stellen, damit man lesen kann, wer Andreas Renoldner ist. Dabei stellt er fest, dass ihm sein Lebenslauf zu einer Ansammlung von gleichzeitigen Lebensbildern geworden ist.
Angeblich wurde er 1957 in Linz geboren, lebte dort bis zur Matura und ging anschließend nach Wien, um sein Medizinstudium abzubrechen. Nebenbei absolvierte er eine Gastgewerbefachschule. Zurück in Oberösterreich führte er eine Betriebskantine.
Wenn in Pieslwang seine Schafe geschoren waren, der Dachboden voller Heu und der Keller voller Äpfel, wenn Gemüse und die in handliche Stücke geschnittenen Schafe in der Kühltruhe lagen und der Most im Keller zu gären begann, saß er in den Nebelnächten wach.
Draußen geisterten Karl Ömperdinger, der Heilige Pieslwang und andere dunkle Mächte herum. Als Geschichtenfänger musste er sie nur aus ihren Verstecken holen, drüben im Kohlenschuppen oder im nachtdunklen Steyrfluss. Hätte er sie nicht eingefangen, wären sie alle bis in die Schindlau gegangen quer übers Land als Plage.
Anfänge wie Beweggründe fürs Schreiben hat er längst vergessen.
Einmal hat er gedacht, er schreibt, weil er nicht untätig herumsitzen will. Wenn er hätte Autos reparieren oder Homepages gestalten können, hätte er vielleicht Autos repariert oder Homepages gestaltet.
Einmal hat er gedacht, er schreibt die Geschichten auf, damit er daheim bleiben und die Kinder wickeln und füttern und ihnen später erzählen kann, wie lustig es ist, wenn man Kinder wickelt und füttert.
Einmal hat er gedacht, er schreibt, weil es besser ist, nichts weiter zu tun, als ein paar schwarze Zeichen auf weißes Papier zu malen. Eine Welt ohne Täter sähe anders aus. Besser vielleicht.
Der Versuch, sich in Erzählungen von Freunden und Verwandten wieder zu finden, brachte Andreas Renoldner Blicke auf mehrere, ihm vollkommen unbekannte Personen.
Seither ist Renoldner der Meinung, er selber sei nur eine Erzählung, die sich selbst im Hören oder Lesen erneuert. Eines Tages, so hofft er, wird er dieses Männchen irgendwo aufstöbern und dazu zwingen, ihm seine Buchstaben zurückzugeben. Mit Hilfe dieser Buchstaben will er eine neue Vita erfinden und festschreiben.
Von diesem Tag an wird er in der Lage sein, sich an sich selber halten und Sosein zu können.
Würdigung
Kulturpreis des Landes Oberösterreich 2001
Staatsstipendien
ORF Österreich 1 Essay Förderpreis 1998 Drehbuchpreis des Landes Oberösterreich 1994
etc