Vita
Walter Neumann wurde am 23. Juni 1926 in Riga/Lettland geboren. "Sein Lebenslauf", schrieb Alexandra Jacobsohn in der Bielefelder "Neuen Westfälischen", "bietet kaum Spielraum für falsche Illusionen. Als Angehöriger der deutschen Minderheit erfuhr er Einschränkung und Unterdrückung, als Bürger Lettlands bekam er die Auswirkungen großmachtpolitischer Herrschaftsgelüste zu spüren. Auf den Hitler-Stalin-Pakt im Jahre 1939 folgte die Umsiedlung ins kriegführende Deutschland. Doch in der Erinnerung blieb dieser Flecken Erde für ihn Heimat. "Über etwas schreiben, heißt sich erinnern", steht in einem Gedicht, und an anderer Stelle: "... Niemand sieht, was wir sahen. / Niemand denkt mehr, wie wir. / Aufbewahrt aber ist alles / in den Gedächtnisfächern."
Die Familie wurde 1940 in dem von Nazi-Deutschland im Polenkrieg okkupierten Thorn in Westpreußen angesiedelt, wo Walter Neumann das Gymnasium besuchte, bis er 1944, noch vor dem Abitur, zum Militär einberufen wurde. Im Frühjahr 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Hier begann er unter dem Eindruck der Kriegserlebnisse Gedichte zu schreiben. Doch wurden diese Versuche durch persönliche, von den Nachwirkungen der Kriegsschrecken hervorgerufene Krisen unterbrochen. Erst Jahre später setzte eine kontinuierliche literarische Produktion ein. Da lebte Neumann schon in Bielefeld, wohin er 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war.Eine direkte Abbildung eigener Horror-Erlebnisse der Kriegszeit hat Neumann dennoch weitgehend vermieden. Vielmehr sah Karl Krolow in Neumanns Gedichten "Aufzeichnungen einer Generation, die durch Krieg, Geschichte, Anfechtung, Tod gegangen ist und das Private, das an persönlicher Erfahrung ist, umzusetzen verstehen ins Modellhafte". Und Michael Hamburger konstatierte in "The Times Literary Supplement": " ... the stance in his "Gedichte" being not so much non-political as anti-political, for reasons, that become apparent in poems about his lost homeland and others about violence committed in the service of a political cause." Hans-Jürgen Heise vertiefte in einer Rezension des 1996 erschienenen Bandes "Der Flug der Möwen" diesen Aspekt: "Neumann hat nicht nur die Wechselfälle der Geschichte, sondern auch die Ungeheuerlichkeit des Seins vor Augen ... den kosmischen Aspekt der Geschichte. ´Mensch, werde wesentlich´, dieser - von Neumann selbst freilich nicht ausgesprochene - Imperativ des Angelus Silesius erscheint als eine Schaffensmaxime des Poeten, der bei allem Ästhetischen stets das Moralische mitdenkt und der über den Trivialitäten heutigen Lebens nie die Abgründe der Existenz vergißt“.
Der literarische Durchbruch kam mit der 1961 erfolgten Publikation von Gedichten im "Merkur", der damals führenden deutschen Kulturzeitschrift, und einer daraus resultierenden Übersetzung in Amerika, sowie mit der Übernahme des Belletristik-Lektorats und kurz darauf auch aller sprach- und literaturwissenschaftlichen Fächer an der Bielefelder Statdbibliothek.
1964 wurde ihm vom Jugendamt der Stadt die Organisation der Autorenlesungen in dem in der literarischen Welt berühmten Bielefelder "Bunker Ulmenwall" übertragen. In siebzehn Jahren hat er über zweihundert Schriftsteller vorgestellt, unter ihnen lange vor der Wende DDR-Autoren wie Volker Braun und Stephan Hermlin, dazu "Dissidenten" wie Peter Huchel oder Sarah Kirsch, ebenso die ganze "Bandbreite" westlicher deutschsprachiger Literatur von Elias Canetti über Thomas Bernhard, Günter Eich, Hermann Kesten, Wolfgang Weyrauch und viele andere bekannte Autoren bis hin zum "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" und Mitgliedern der Schreibwerkstatt der lokalen Volkshochschule. Mit Schriftstellern aus Japan, Frankreich, Polen, Amerika, der Schweiz kam ausländische Literatur zu Wort, Namhafte Übersetzer wie Karl Dedecius und der Beckett-Freund Elmar Tophoven erweiterten die Einblicke in anderssprachige Literaturen. In zwei umfangreichen Anthologien wurden die Lesungen dokumentiert. Dazu schrieb Wolfgang Körner 1979: "Dem Herausgeber kann in dieser Zeit der Polarisierung nicht hoch genug angerechnet werden, daß er die Autorenlesungen ideologiefrei allen relevanten Strömungen in Literatur und Gesellschaft öffnete. Nur so konnte ein Buch entstehen, das provinzielle Enge, die Veröffentlichungen mit lokalem Bezug meist anhaftet, wie selbstverständlich überwindet."
Im Jahre 1980 leitete Neumann dann, gleichzeitig als Abschluß der "Bunkerlesungen", eine vom nordrhein-westfälischen Kultusministerium in Auftrag gegebene "Internationale Arbeitszeit für Autoren“ an der sich Schriftsteller aus 13 Nationen beteiligten und die abermals in einer umfangreichen Anthologie dokumentiert wurde, der die „Zeit“ „Diskussionen auf hohem Niveau“ bescheinigte.
Seit 1965 Mitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), aus dem er 2005 austrat, und seiner Vorläuferorganisation, dem Westdeutschen Autorenverband, und 1973 in den PEN-Club gewählt, war Neumann für beide Organisationen aktiv. Eine über fünfzehn Städte der ost-westfälischen Region ausgedehnte "Lieraturwoche" mit mehr als siebzig Lesungen fiel in seine Ägide als VS-Bezirkssprecher, und für den PEN organisierte er Veranstaltungen zum "Writers-in-Prison" - Tag des Internationalen PEN.
Neumann ist Mitglied der Georg-Herwegh- und der Ernst Meister-Gesellschaf sowie Ehrenmitglied der "Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik". 1968 erhielt er ein Auslandsreisestipendium des Auswärtigen Amtes, mit dem er Paris und die bereits von der Okkupation durch den Warschauer Pakt bedrohte Tschechei besuchte, wo er Kontakte zu fortschrittlichen Autoren wie Vaclav Havel und Vera Linhartova knüpfte. 1975 folgte eine von der Rheinisch-westfälischen Auslandsgesellschaft geförderte Reise in die Sowjetunion. 1981 wurde ihm der Andreas-Gryphius-Förderpreis und 1989 der Eichendorff-Literaturpreis zugesprochen.
Zahlreiche Exkursionen führten ihn zu literarischen Veranstaltungen und Symposien ins westliche und östliche Europa und nach Afrika. Lyrikbände von ihm erschienen zweisprachig in Frankreich, Lettland und Polen, Übersetzungen seiner Gedichte in Amerika, England, Estland, Rumänien, Spanien und Ungarn. Er seinerseits übersetzte den lettischen Dichter Janis Rainis ins Deutsche.
Der weitgespannte Horizont an Freundschaften, Landschaftserlebnissen, politischen Erfahrungen fand und findet seinen Niederschlag in Neumanns Literatur. Als "Schlüsselworte für Leser, die sich mit Schlagzeilen nicht abspeisen lassen wollen", charakterisierte Martin Bodenstein in der "Neuen Westfälischen" Neumanns Texte. Walter Helmut Fritz betonte das „lakonisch-meditative Element“, „das für Neumanns Sprache kennzeichnend ist“. Während Martin Kraft in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom „Wissen um die Kostbarkeit und Verletzlichkeit des Wortes“ in Neumanns Gedichten spricht, bescheinigt Ludwig Steinherr in einer Rezension des Bandes „Die Bewegung der Erde“ den Versen „Frische und Vitalität“. Jürgen P Wallmann wiederum unterstreicht, die Gedichte zielten „auf Verständigung mit dem Leser, wenngleich die Schwierigkeiten sprachlicher Kommunikation durchaus bewußt sind und auch angesprochen werden“. Und Dagmar Nick nennt in der Laudatio zum Eichendorffpreis Neumanns Gedichte „Herausforderungen an den Leser“, in denen „die wahrgenommene Gegenwart durchlässig wird, so daß dahinter eine mögliche Zukunft ebenso sichtbar wird wie die Vergangenheit.“
Würdigung
1968 und 1975 Auslandsstipendien,
1981 Andreas-Gryphius-Förderpreis
1989 Eichendoff-Literaturpreis